Mein Schatten kann über Wasser gehen

Mein Schatten kann über Wasser gehen
Buchobjekt nach einem Gedicht von Christine Lavant

in 13 Bildern, 70 cm x 50 cm (geöffnet 70 cm x 100 cm),
Tusche, Graphit, Acryl auf handgeschöpftem Papier,
Text collagiert. 2018

Mittelalterliche Bindetechnik von Stephan Ortbauer. Mit freundlicher Genehmigung der Hans Schmidt Privatstiftung.

 

Mein Schatten kann über Wasser gehen,

wenn Mond oder Sonne nur richtig stehen,

mein Schatten glänzt dann am Scheitel.

Dieses Glänzen ist freilich bloß eitel
und kann nichts erwärmen, nie leibhaftig sein,

doch manchmal verdankt ihm ein einfacher Stein,
dass er silbern erstrahlt vor den andern.

Mein Schatten geht selbständig wandern,

auch oft in der Nacht aus dem untersten Traum,

mich hängt er dann so wie ein Pferd an den Baum
des Schlafes und lässt mir kein Futter.

Ich schreie um Vater und Mutter,

auch um die Geschwister und um den Tod,

doch bringen sie mir weder Zucker noch Brot,
ich höre alle nur von ferne.

Sie reden mir zu durch ein gläsernes Tor

und schließlich kommt doch nur mein Schatten hervor
In Begleitung ertrunkener Sterne.

 

Gedanken zu Text und Bild

In meinen Buchobjekten folge ich der mittelalterlichen Buchtradition, wo viele Bilder einem Text beigefügt waren, um auch leseunkundigeren Menschen Inhalte zu vermitteln. Ich habe ich mich dieser Tradition angeschlossen. Es ist allerdings nicht die Vermittlung von Inhalten von Interesse, sondern vielmehr der intime Moment beim Betrachten des Bildes im Buch. Die Vertiefung in eine oder zwei Verszeilen des Gedichtes von Christine Lavant erschließt weite Bildräume. Diese sehr bildhaften Metaphern sind mir Inspirationsquelle. Im Gedicht selbst habe ich zum Teil zwei Zeilen zusammengefasst, die aus der inneren Logik sinnvoll erschienen.
Den Text selbst habe ich mit Buchstaben aus einer Zeitung collagiert.

Beginnend mit der ersten Zeile versuche ich nun der Reihe nach meine Überlegungen zum Gedicht aufzuschreiben.
„Mein Schatten kann über Wasser gehen,“ „wenn Mond oder Sonne nur richtig stehen“,
hier nimmt die Autorin die Himmelskörper herein – die am Ende mit den „ertrunkenen Sternen“ einen Bogen bilden. Sie erzeugt eine unmittelbare Atmosphäre von Lichtqualität. Die Sonne vermittelt Wärme und Harmonie, der Mond die Kälte, die Abspaltung. Und dieser Schatten wir als physische Erscheinung beschrieben. Diese Kälte steigert sich noch im „mein Schatten glänzt dann am Scheitel.“ „Dieses Glänzen ist freilich bloß eitel und kann nichts erwärmen, nie leibhaftig sein,“
Sie meint hier wohl die seelische Kälte.
„doch manchmal verdankt ihm ein einfacher Stein, dass er silbern erstrahlt vor den andern.“
Der Stein kommt in ihren Gedichten sehr oft vor und ich lese ihn als Versteinerung im Inneren, also eine Stelle einer alten Verletzung, die versteinert ist wird sichtbar – sie erstrahlt silbern. Silber ist ein Edelmetall, das man immer wieder reinigen und läutern muss, damit es glänzt. Es ist also eine Stelle in ihrem Inneren, die sie kennt und nun plötzlich sichtbar wird.

„Mein Schatten geht selbstständig wandern,“ hier transformiert sich der physische Schatten in den inneren Schatten der Gefühlslage – er verselbständigt sich. Eine innere Dunkelheit wird unkontrollierbar.
„oft auch in der Nacht aus dem untersten Traum“ – Nacht und Traum sind die tiefen Ebenen des Unterbewussten, hier ist keine Selbstkontrolle möglich.
„mich hängt er dann so wie ein Pferd an den Baum des Schlafes und lässt mir kein Futter.“
Das Traumbild zeigt ein Pferd, das an den Baum des Schlafes gebunden ist: Die Lebenskraft und zugleich Lebensfreude ist an einen Baum gebunden, noch dazu ein Baum des Schlafes – also ein Baum, der keine Erkenntnisse liefert außer, dass sie keine Nahrung bekommt. Das erzeugt Angst.
„Ich schreie um Vater und Mutter,“
An dieser Stelle verstehen wir die Angst – es ist eine Angst eines kleinen Kindes, das um Vater und Mutter schreit.
„auch um die Geschwister und um den Tod“
Die innere Not ist so groß, dass sie sogar den Tod herbeisehnt. Die Geschwister und der Tod bilden in diesem Bild eine große Ambivalenz. Die Geschwister, die Lebensfreude, das Spiel und die Leichtigkeit aufzeigen und zugleich der Tod, der alles Leben auslöscht.
„doch bringen sie mir weder Zucker noch Brot, ich höre nur alle von ferne.“
Sie ist also getrennt von den Menschen, die ihr Sicherheit und Schutz, Leichtigkeit und Spiel bringen könnten und sie erhält keine Süße oder Freude (Zucker) und auch nicht das Grundnahrungsmittel (Brot), das Lebensnotwendige.
„Sie reden mir zu durch ein gläsernes Tor“
Das gläserne Tor vertieft noch die Trennung, die Abspaltung, die große Kindheitsnot und auch die Kälte.
„und schließlich kommt doch nur mein Schatten hervor in Begleitung ertrunkener Sterne.“
Der Schatten, die innere Dunkelheit kommt wieder hervor, der Schatten der eingangs physisch beschrieben, dann als innerer Schatten transformiert taucht hier nun mit einer kleinen Veränderung wieder auf, nämlich in Begleitung ertrunkenen Sterne. Diese Himmelsgebilde sind weit entfernt: sie deuten auf ihre Wünsche und Vorstellungen von Leben hin, die unerreichbar sind und die ich mit dem Begriff „Illusion“ beschreibe. Nun sind ein paar Illusionen ertrunken in Begleitung ihres Schattens. Diese neuerliche Transformation des Schattens führt in eine hoffnungsvollere Stimmung. Ist doch die Illusionskraft eine starke Kraft, die unser Leben bedrängen kann. Ein paar dieser _MG_0059

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